Siedeln mit dem Wolf
by Florian
Es war einmal ein schlaues, aber doch noch recht kleines Mädchen namens Annmarie. Den Spieletreff in ihrem Dorf besuchte sie selten, denn der fand immer am Abend statt, wenn es schon dunkelte und Schulkinder langsam ans Schlafen denken mussten.
Aber einmal, drei Tage vor Ende der Sommerferien, gab es einen zusätzlichen Spieleabend. Und da ging Annmarie mit ihrer Freundin Corinna hin. Sie kannte sogar ein paar von diesen Spielen, die sie da hatten – zum Beispiel den roten Karton mit den Siedlern von Catan, den gab es zu Hause auch.
Beim Siedeln blieben Annmarie, Corinna und Christian nicht allein. Auch ein Wolf klopfte auf den Tisch und begehrte mitzuspielen. Eigentlich wollte er die Österreich-Karte ausprobieren, zur Einstimmung auf seinen nächsten Urlaub, aber der Einfachheit halber einigten sich alle auf die Siedler-Standardversion.
Und was musste Annmarie da herausfinden. Sie kannte die Regeln ja gar nicht! Die Zahlen zum Beispiel, die legten sie daheim immer zufällig auf die Landschaften. Der Wolf aber bestand darauf, sie nach Buchstaben geordnet spiralförmig aufzulegen. Überhaupt war er zwar kein böser Wolf, wie sie nur im Märchen vorkommen, aber ein strenger Wolf. Er wollte genau so spielen, wie das ein gewisser Klaus Teuber nach hunderten Testpartien festgelegt hatte.
Das Spiel begann, und da passierte es, der Räuber verließ seine Wüste und raubte! Zu Hause bei Annmarie blieb der Räuber stets in der Wüste stehen. Für ausgespielte Ritter durfte man bei einer gewürfelten Sieben mehr Karten behalten. Und am Ende gewann immer Papa.
Die Würfel halfen Annmarie, sie holte die ersten Rohstoffe, doch schade, es waren die falschen. „Warum holst du dir nicht eine Entwicklungskarte?“ wollte der Wolf wissen. „Die nehme ich eigentlich nie“, sagte Annmarie. „Die sind aber stark, da sind allein fünf Siegpunkte drin und die Rittermacht“, sagte der Wolf. Er war gerissen wie alle Wölfe.
Annmarie kaufte Entwicklungskarten. Und weil sie zwar nicht sehr groß, aber ziemlich schlau war, lernte sie schnell. Ein paar Runden hielt sie die Karte Monopol in der Hand. Sie zögerte – vielleicht hatte sie Skrupel, vielleicht wartete sie auf eine günstige Gelegenheit. Und die kam. Nach einer langen Hungersnot erhielten alle endlich einmal wieder Getreide. Alle außer Annmarie. Annmarie spielte Monopol für Getreide, sie kassierte neun Getreide, und das Geschrei war groß.
Und einmal ertappte sie den Wolf, wie er gegen die Regeln verstieß. Da wollte der doch glatt bei Christian eine Karte ziehen, obwohl er eine Acht gewürfelt hatte – und keine Sieben! Er war gierig wie alle Wölfe. Aber Annmarie machte auf den Fehler aufmerksam, und der Wolf musste den gestohlenen Ziegelstein zurückgeben.
Als die Hälfte des Spiels vorüber war, sagte Annmarie: „Zu Hause wäre es schon vorbei, und Papa hätte gewonnen!“ Und der Wolf antwortete: „Der gewinnt nicht mehr, du weißt ja jetzt, wie es geht.“
Der Wolf wäre kein Wolf gewesen, wenn er sich nicht als Erster zehn Siegpunkte einverleibt hätte. Und er bekam nicht einmal Bauchschmerzen davon. Aber die anderen nutzten es aus, dass er ja sozusagen schon ausgeschieden war, und jetzt erfanden sie doch eine neue Regel: Die Runde musste zu Ende gespielt werden. Der Wolf war schließlich Startspieler gewesen.
Annmarie würfelte eine Sieben. Sie brauchte unbedingt noch ein Getreide. Das wollte sie beim Wolf klauen, denn der hatte ja vier davon – und außerdem nur drei Schafe und einen Lehm. Annmarie griff nach den Karten des Wolfs.
Und wieder erinnerte der Wolf – der strenge Wolf – an die Regeln. Er musste doch noch die Hälfte seiner Karten abgeben. Gehässig, wie er nun einmal war, legte er alle vier Getreide zurück, behielt nur Lehm und Schafe. Annmarie schluckte, aber sie fand sich damit ab. Schließlich war sie doch kein ganz so kleines Mädchen mehr. Die Siedlung würde sie eben in einer anderen Partie bauen.
Der Wolf, das war natürlich ich. Und Annmarie will jetzt vielleicht öfter zum Spieletreff kommen.