Viktorianische Geisterjäger mit Bärenkräften
von Florian
Wir haben The Between gespielt. Mein Kopf ist noch voll davon. Lasst mich erzählen.
The Between – so heißt ein 2021 erschienenes Rollenspiel über Geisterjäger im viktorianischen London. Es ist als eine Kurzkampagne mit einer die einzelnen Bedrohungen überspannenden Verschwörung und einem großen Finale angelegt.
Wir haben diese Kampagne zu viert Ende September begonnen und jetzt im Februar beendet. Ursprünglich bestand die Hoffnung, das in zwölf Sessions zu schaffen, am Ende waren es 20.
Es war die großartigste Rollenspielkampagne, die ich je gespielt habe. Wenn ich im Folgenden hier und da auch kritische Bemerkungen über The Between mache, so möchte ich das vor diesem Hintergrund verstanden wissen. Ich suche immer nach Ansätzen, Dinge zu verbessern oder zumindest anders zu lösen.

Das Team
Die Figuren sind Geisterjäger, aber mit so spektakulären Fähigkeiten, dass Autor Jason Cordova sogar von einem viktorianischen Superheldenrollenspiel spricht. Unsere Truppe bestand aus:
- Baston Bonhomme, einem auffällig gekleideten, nur scheinbar jungen Mann mit einer Vorliebe für elegante Kleidung, Kokain und Opium und andere junge Männer. Er altert nicht, seine Sünden zeichnen sich statt in seinem Gesicht auf einem Gemälde ab, das er in einem Geheimversteck aufbewahrt,
- Geoffrey Beckland, einem Wissenschaftler, der den Tod des geliebten Bruders dadurch kompensiert, dass er ihn aus Leichenteilen nachzubauen sucht, und
- Dynamite Dotty, der Tochter der Daltons aus Boston, einer vor ihrer Familie erst in die Wildnis und dann nach England vertriebenen Frau mit tierischen Instinkten: In ihr stecken die Kräfte eines Grizzlybären.
Die Playbooks – Klassenbücher könnte man sie analog zu Dungeon World nennen – sind nicht nur Kostüme, in die sich die Spielfiguren kleiden. Sie prägen die Geschichte, sie tragen in jeder einzelnen Spielsitzung narrative Elemente bei. So muss die Gestaltwandlerin The American in jeder Abendphase würfeln, ob ihre tierischen Instinkte die Oberhand gewinnen, und The Mother (der Leben aus Leichenteilen konstruierende Wissenschaftler) kann seinen Hilfstrupp ausschicken, um Gräber zu plündern.
Natürlich bietet jedes Klassenbuch auch Spielzüge an, die der Figur erlauben, Hindernisse auf ihre spezielle Art zu beseitigen. Schließlich aber sind die Playbooks mit den Bedrohungen verzahnt. Nichtspielerfiguren reagieren unterschiedlich auf bestimmte Klassenbücher. Die Playbooks sind nicht Accessoires, sondern Teil der Kampagne.
Die Fälle
Die Jäger spürten einem Vampir in Kindergestalt, einem Mönche zu Schandtaten verführenden Dämon und einer Metzgersfamilie nach, die Menschen zu Pasteten verarbeitet. Für diejenigen, die das Spiel kennen, zähle ich die bewältigten „Bedrohungen“ auf:
- The Limehouse Lurker
- The St James’s Street Ghost
- The Demon of Kilburn Abbey
- Sally-No-Face
- The Lord and Ladies of Weymouth Hall
- The Creature of Cremorne Gardens
- The Whateley Camera
- Figg’s Pigs
- The Pinkerton
Diese Bedrohungen oder Fälle bestehen ergebnisoffen aus Örtlichkeiten, Personen und Hinweisen. Die Spieler müssen Fragen beantworten. Ob sie recht haben, sagt ein Wurf, dessen Erfolg von der Zahl der gefundenen und für die Theorie genutzten Hinweise abhängt.
Stimmt die Theorie, schlägt der Fall ein, zwei Lösungsmöglichkeiten vor. Die Spieler beziehungsweise ihre Figuren sind also frei darin, etwa die Geschichte des Dämons im Lauf der Jahrhunderte zu rekonstruieren: Sie erfinden sie letztlich auf Basis der Hinweise, die die Spielleitung ihnen an die Hand gibt.
Am Ende aber müssen sie den Dämon verbannen. Hier werden die Handlungsfäden wieder gestrafft. Ich habe diese Vorgaben gelegentlich als einschränkend empfunden.
Schade fand ich, dass sich viele Fälle in einem einzigen Gebäude abspielen oder zumindest nur einen Nebenschauplatz haben, so der Ghost, die Abbey, Weymouth Hall, die Whateley Camera und Figg’s Pigs. Ich hätte die Spieler gerne mehr durch London laufen lassen, wie in Cthulhu by Gaslight.
Der Mastermind-Plot
Während die Spielfiguren Dämonen bannen und Fischmonster ins Exil nach Kopenhagen schicken, bedroht ein Oberschurke nicht nur London, sondern das ganze britische Empire in Person Ihrer Majestät, Königin Victoria. Es ist – Achtung, kleiner Spoiler! – die ehemalige Piratin Theodora Brathwaite. Und ich hatte als Spielleiter Bedenken, wie ich sie als Antagonistin spielen sollte.
Theodora sticht aus der konservativen Gesellschaft ihrer Zeit hervor – ganz wie die Geisterjäger. Sie ist weiblich und farbig, sie liebt Frauen, gibt hedonistische Partys, statt verlogen Frömmigkeit zu heucheln. Sie steht den Werten der Spielfiguren durchaus näher als Queen Victoria.
Zum Glück hat The Between dafür eine Lösung. Indem Theodora, ihre Tochter Tatiana und ihre diversen Helfer immer wieder die Ermittlungen stören, werden sie den Geisterjägern furchtbar lästig, und wenn sie in der einen oder anderen Situation die Oberhand behalten, beginnen die Spielenden, sie herzlich zu hassen.
Den Abschlussfall, die große Verschwörung, entwickelt jede Spielleitung aufgrund des Kampagnenverlaufs selbst. Es ist also kein Spoiler, wenn ich verrate, wie es bei uns gelaufen ist.
Theodora Brathwaite plante, die Queen bei einer öffentlichen Veranstaltung zu entblößen. Sie sorgte dafür, dass Victoria ein bestimmtes Kleid trug, das mit einer Chemikalie bespritzt durchsichtig würde. Die Queen stünde nackt vor allen Leuten, die Welt würde über sie, ihr Empire und ihre Untertanen lachen.
Kurz, die Kampagnenstruktur hat für uns großartig funktioniert. Nicht so glücklich war ich mit ihrem mechanischen Auslöser, nämlich hohen Würfelergebnissen bei einem bestimmten Spielzug. Das Voranschreiten der Kampagne sollte meines Erachtens nicht vollständig dem Zufall überlassen sein. Mit Pech passiert über mehrere Sessions hinweg auch mal gar nichts.
Ist es gruselig?
Ob The Between gruselig ist, können letztlich wohl nur die Spieler beantworten, aber ein paar Anmerkungen habe ich als Spielleiter auch.
Mir selbst fällt es schwer, übernatürliche Erscheinungen über einen gewissen Punkt hinaus ernst zu nehmen. Insofern bin ich wohl nicht der ideale Spielleiter für ein Horror-Spiel. Auch glaube ich, dass Spielende sich nicht richtig vor einem Vampir gruseln werden, dessen Geschichte sie gerade selbst aus merkwürdigen Hinweisen konstruiert haben.
Die Freiheit, die The Between den Spielenden lässt, fördert darüber hinaus bisweilen den Rückgriff auf Absurditäten, wenn ihnen gerade nichts Konkreteres einfällt. Und die Leitung steht dann vor der Frage, ob sie mit den Ideen der Spielenden mitgehen oder sie ausbremsen soll.
Dennoch hat The Between auch bei uns gruselige Momente gehabt. Manchmal waren es die Beschreibungen der Spielenden, wenn sie okkulte oder ghulische Aktivitäten ihrer Figuren schilderten. Oft auch ergaben sie sich aus möglichen üblen Wendungen missglückter Würfe.
Die Spielenden können nämlich ein negatives Ergebnis abwenden, indem sie eine von zehn „Masken aufsetzen“, die sie zugleich verpflichten, etwa ein finsteres Geheimnis aus ihrer Vergangenheit zu erzählen. Und weil das so ist, kann und muss die Spielleitung gegenhalten, mit tausend Toden und Verstümmelung drohen, die durch eine Maske dann in letzter Sekunde abgewendet werden.
Mit der letzten Maske allerdings scheidet eine Figur aus dem Spiel aus. Dieses Schicksal traf unsere Amerikanerin, die dauerhaft zur Grizzlybärin wurde und als solche in den Sherwood Forest entfloh. Immerhin bekam Nicole so die Gelegenheit, ein weiteres Klassenbuch auszuprobieren. Als Medium und Zauberin Fiona O’Rourke konnte sie dämonische Mächte für ihre Zwecke einspannen.
The Between ist ein aufregendes, innovatives Rollenspiel. Ich persönlich halte die ungewöhnlichen, in die Kampagne eng eingebundenen Playbooks für seine größte Stärke.
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